Jede Linie verbindet
Punkte.
Der kürzeste Weg, die Gerade, ist zugleich die trivialste
Linie – ohne Schnörkel, makellos und unangreifbar,
streng, entschieden und indiskutabel – kurz: langweilig.
Eine Linie kann sich verirren. Sie hat das Recht
dazu. Eine Linie hat und braucht Zeit. Sie kann trödeln, am
Blattrand etwas verweilen, zur Mitte streben und sie wieder verlassen,
eine Pirouette drehen, oder, aus freien Stücken, auch mal kurz
eine Gerade durchlaufen. Natürlich nicht ganz exakt, ein kleiner,
hauchfein angedeuteter Haken reicht schon aus, um doch Linie zu
bleiben.
Zur Linie wird man geboren, zur Geraden wird man gemacht.
Linien sind ungern allein. Sie lieben die Gesellschaft
anderer Linien, sie reiben und schmiegen einander, verlieren sich
im Strudel der Drehungen und finden sich neu oder flitzen plötzlich
gemeinsam kurz entschlossen aus dem Blatt heraus.
Auf Linien ist kein Verlaß. Sie neigen
zur List, zur Andeutung, zum kindlichen Lügen. Sie locken uns
in ihre Welt der Bodenlosigkeit, hinein in die Tiefe des Blattes.
Man kann sie nicht festhalten und ausfragen. Nur beobachten. |